ein Haus in Ninh Hoa

Synopsis Text zum Film Kritiken

Das alte Haus der Familie Le liegt inmitten von Feldern am Rande der Kleinstadt Ninh Hoa, unweit der Südküste Vietnams. Ein von Frauen geführter Haushalt, weder reich noch arm, mit Hühnern hinter der Küche und Blick auf die umliegenden Reisfelder.

Im Alltag der Hausbewohner wird die ungewöhnliche Konstellation der Familie sichtbar, in der das 20. Jahrhundert deutliche Spuren hinterlassen hat und Deutschland einen wichtigen Referenzpunkt markiert:

Ein Teil der Familie lebt seit über 40 Jahren in der Nähe von Bonn, während der andere Teil der Familie in Ninh Hoa geblieben ist. Die Familiengemeinschaft umfasst anwesende und abwesende Verwandte gleichermaßen und erstreckt sich bis in die Welt der Geister.

Das Leben dreier Brüder zeigt die Pfade der Geschichte: Der älteste wurde in den frühen 1970er Jahren als Diplomat an die Botschaft der Republik Vietnam in Bonn berufen. Bei Kriegsende 1975 existierte das Land, dessen diplomatischer Vertreter er war, nicht mehr, und er blieb mit seiner Familie in der BRD. Der zweite Bruder wurde Soldat und verschwand in den Wirren der letzten Kriegstage. Seine Überreste wurden nie gefunden. Der dritte wurde nach Ende des Krieges in ein Umerziehungslager geschickt. Heute ist er der einzige männliche Bewohner des Hauses in Ninh Hoa.

Nicht weit entfernt vom Haus der Familie – an der Nationalstraße, die die Hauptstadt Hanoi mit Saigon, der ehemaligen Haupstadt Südvietnams, verbindet – steht das »Palmenhaus«. Die Kinder des nach Deutschland ausgewanderten Bruders haben es für ihre Eltern bauen lassen, obwohl diese sich nie dazu entschließen konnten, nach Vietnam zurückzukehren.

Im Sommer 2014 kommen zwei Besucher aus Deutschland in das Haus der Familie in Ninh Hoa: Die älteste Tochter will über den Verkauf des Palmenhauses entscheiden, Zeit mit ihren Verwandten verbringen und nach alten Briefen aus Deutschland suchen. In der Zwischenzeit landet ihr Bruder in Hanoi mit der Absicht, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Familiengeschichte zusammenzuführen. Er kontaktiert ein Geistermedium, das ihm bei der Suche nach dem verschollenen Onkel helfen soll. Solange dessen Gebeine nicht im Familiengrab beigesetzt werden, bleibt der Onkel ein »hungriger Geist«, der sich nach seinem Zuhause sehnt.

Poröse Raum-Relations-Behälter

“In dieser Gesellschaft muss man vergessen können.”

Wie könnte man die Geschichten erzählen, die eine Großfamilie ausmachen und auszeichnen? Wie stellt man sich auf das Spezifische ein, ohne es zu reduzieren? Und wie zeigen sich Dringlichkeit und Tiefe von Beziehungen?

Zu Beginn von Ein Haus in Ninh Hoa begegnen wir einem der beiden zentralen Schauplätze durch ein elegant geformtes Fensterkreuz – eine Art Barriere, die doch nicht absolut ist. Wir schauen einen langen Flur hinab, die Treppe hinauf, die Wände sind kahl, ein Schlafzimmer, dessen Möbel in Plastikfolie konserviert sind. Während wir die vermeintlich leeren Räume betrachten, füllen sich diese mit Ton: Autos und Lastwagen, die vor dem Haus entlangfahren, hupende Mopeds, bellende Hunde.

Ebenso tönt der darauf folgende Blick auf die grünen Reisfelder voller zwitschernder Vögel, nun entfernteren Verkehrsgeräuschen, und den Nachrichten von Radio Ninh Hoa, das zweimal am Tag über öffentliche Lautsprecher die gesamte Umgebung mit seinen Berichten über Verteidigungsangelegenheiten, landwirtschaftliche Erfolge und Verkehrsunfälle durchdringt.

Ton verortet uns in Raum und Zeit, noch bevor sich die bedeutsame und besondere Vertrautheit mit den beiden Häusern einstellt, die für die Mitglieder der Familie Le von unterschiedlicher Signifikanz sind:

Das eine Haus steht an der Hauptverkehrsstraße, die die beiden Teile des ehemals geteilten Vietnam verbindet. Die Reduziertheit seines Inneren bietet Raum für und erweitert die fortlaufenden Geschichten und Gegenwarten, ebenso wie für die Hoffnungen, die mit gelegentlichen Besuchen oder einer möglichen Rückkehr in das Heimatland verknüpft sind.

Das andere Haus ist von Palmen umgeben, geordnet durch und angefüllt mit den alltäglichen Verrichtungen derer, die dort geblieben sind. Hier, im eingewohnten Mobiliar, den Familienbildern, Briefen und Notizbüchern hallen die Geschichten der Familie anders wider. Seine materielle Beschaffenheit verändert sich mit der Tageszeit und den Aufgaben des Alltags: Hühner füttern am Morgen, das Abstauben des Familienaltars, Buchhaltung, ein Mittagsschlaf in der Hängematte, ein gemeinsames Abendessen, das Fernsehprogramm, das von einem Anruf aus Deutschland unterbrochen wird. Als aufmerksame ZuschauerInnen können wir uns durch den sorgsam bemessenen und klar gerahmten Zugang, der uns zu den beiden Häusern eingeräumt wird, auf ihre jeweilige Körper- und Zeitlichkeit einstimmen.

Örtlichkeit eröffnet sich uns daher durch die sichtbare und hörbare Materialität der Dinge, durch die alltägliche Pflege des Hauses und kurze Verweise auf historische Ereignisse – den Vietnamkrieg und die Wiedervereinigung des Landes nach seinem Ende. Der Ort des Geschehens ist ein bestimmter, der, als Bühne verstanden, wichtiger Hintergrund für das Auftreten der einzelnen Familienmitglieder ist und diese doch nicht festlegt.

Wir nähern uns den Mitgliedern der Großfamilie Le durch ihre Verbindungen zu den beiden Häusern und durch eine Serie offen inszenierter Episoden. In diesen Episoden kadriert die statische Kamera eine scheinbar beiläufige Unterhaltung beim Abendessen, das Vorlesen des ersten Briefes, der 1975 aus Bonn nach Südvietnam geschickt wurde, eine Séance, in der versucht wird, Kontakt zum verschollenen Onkel herzustellen, oder die Geschichten von Verlust und übernatürlicher Wiederkehr, die der Großmutter, dem ältesten Mitglied der Familie, erzählt werden. Entscheidend ist, dass jedem dieser subtil und gelegentlich nur geringfügig miteinander verbundenen Elemente derselbe Stellenwert eingeräumt wird. Dadurch entsteht eine Bühne, auf der das Gewöhnliche und das Außergewöhnliche nahtlos ineinander übergehen. Das Spektakel des Geisterhaften und filmische Spannung als Mittel der Fabrikation von Aufmerksamkeit werden dabei vermieden. Der Kontext, in seinen vielschichtigen Texturen sorgsam präsentiert, wird Hintergrund für erzählerische Details, deren Verbindung untereinander nicht immer offensichtlich scheint, und die genau dadurch zu nicht reduzierbaren Einzelheiten werden – kein Fragment, keine Person, kein Aspekt einer Geschichte kann zugunsten eines Schlusses, einer Auflösung oder der Projektion der ZuschauerIn einfach zusammengefasst und definiert werden. Jedenfalls nicht in diesem Leben – und so rückt der Film näher an das Leben als eine Abfolge offener, oft unbenannter und unbezeichneter Geschehnisse.

Die formale Entscheidung für das Unabgeschlossene setzt sich fort in einer Ethik des Respekts gegenüber der jeweiligen Haltung der Familienmitglieder: Erinnern und Vergessen, Teilnahme oder der freiwillige Entzug, der Beitrag zur eigenen Erzählung und zu jener des Films sind individuelle Entscheidungen, deren Konsequenzen uns gelegentlich den direkten Blick verstellen.

Wenn die Mitglieder der Familie Le sich alte Fotos und Briefe ansehen oder dem verstorbenen Vater an seinem Grab die Ehre erweisen, wird uns als ZuschauerInnen kein privilegierter Zugang eingeräumt. Wir bleiben einen anstandsvollen Schritt zurück. Mit dieser Haltung wird Ein Haus in Ninh Hoa zu einem ungewöhnlichen Familienportrait, in dem sich Intimität und Tiefe nicht durch die Offenlegung von Familiengeheimnissen oder einen dramatischen Aufbau emotionaler Intensität herstellen. Der filmische Raum selbst wird zu einem durchlässigen Behälter für Geschichten und Geschichte, die gemeinsam ein kontextspezifisches Verständnis für Zeit und Beziehungsgefüge herstellen. Entsprechend besteht unser Privileg als ZuschauerInnen darin, dass uns die Zeit gegeben wird, uns einzulassen auf die Textur des Ortes, seine Zeitlichkeit, und die Art des Beisammenseins der Familie, in der über manches gesprochen wird und andere, unausgesprochene Spannungen unberührt bleiben.

Damit stellt der Film die Frage, wie viel an faktischem Detail und Offenbarungen der Ursachen von Verlust, Trauer und Sehnsucht wir benötigen, um eine verantwortungsvolle Nähe zu durch Krieg und Migration beeinflussten singulären Erfahrungen herzustellen. Migration wird zu einer jederzeit möglichen Tatsache der Geschichte und der Gegenwart, die sich in den Lebenswegen der drei ältesten Brüder der Les zeigt: Einer gilt seit dem Ende des Krieges als vermisst, einer verließ das Land während des Krieges und ließ sich in Deutschland nieder, der dritte blieb in Vietnam, ging durch ein Umerziehungslager und kehrte in das Haus der Familie zurück. Die Ruhe von Ein Haus in Ninh Hoa trägt diese Details, und gleichzeitig erlaubt die filmische Erarbeitung von Zeit, dass die diversen zeitlichen Verortungen jedes Familienmitglieds an die Oberfläche kommen, abhängig davon wie und wo sie die Zeit nach dem Krieg erlebt haben. Zeit eröffnet uns so auch eine andere Form der Beziehungnahme: In seiner besonderen Art, die Geschichte einer einzigen Großfamilie zu erzählen, öffnet der Film den Blick auf die elementaren Ereignisse und Bewegungen des 20. und 21. Jahrhunderts: Krieg und Migration hinterlassen grundlegende Spuren, damals wie heute.


Nicole Wolf, April 2016

"The emotional gravity of the film is initiated by postwar exits and reunions, but it spills beyond the war discourse. The filmmakers’ loosely staged framework enables the family’s improvised dialogues to transpire in a graspable form and simultaneously digress far from Vietnam’s perennially marked topic of war. Capaciously, the documentary observes and disseminates questions around the rhythm and unease of suburban life, the depth of intergenerational haunting, and possible throughways between the living and the dead."

Nguyễn-Hoàng Quyên, Yamagata Film Criticism Workshop

"Exploring what the documentary form is and how much truth is conveyable through a certain cinematic style and approach, A House in Ninh Hoa is not only an eye pleasing piece of work — the stillness and beauty of the locations, and the shot compositions are outstanding — but also a fascinating dive into the limits of representation and the meaning of “truth” in relation to moving images."

Matteo Boscarol, Il Manifesto / Documentary in East and Southeast Asia

“Alle Bewegungen des Dokumentarfilms kreisen um den Verlust, es geht darum, die Leere zu bestücken: mit dem Materiellen und dem Imaginären, mit Erinnerungen und Träumen, mit Alltag vor allen Dingen.”

Esther Buss, Der Freitag

“Menschen wie Kim Anh oder Phuong gehören mindestens zwei Welten an, und wenn es in „Ein Haus in Ninh Hoa“ auch nicht im Entferntesten um so etwas wie Multikulti oder Migrationskunde geht, macht dieser exzellente Dokumentarfilm doch hinreichend deutlich, dass Identität (wie auch Familie) eine Idee ist, die man vielleicht am besten nur sanft in den Wind der Geschichte halten sollte.”

Bert Rebhandl, FAZ

“Ein großer Film über eine Vergangenheit, die nicht vergeht.”

Bert Rebhandl, Zitty

“Ein Haus in Ninh Hoa ist eine Geschichte der Abwesenheit aus der Perspektive derer, die bleiben: Migrationsgeschichte aus der Sicht derer, die nicht ausgewandert sind; Kriegsgeschichte aus der Sicht derer, die nicht in den Krieg gezogen sind; Familiengeschichte aus der Sicht derer, die die Ahnen überlebt haben. Ein Haus in Ninh Hoa spielt hier und dort gleichzeitig.”

Manon Cavagna, critic.de

“Ein Haus in Ninh Hoa ist ein Film von großer Offenheit, nicht in seiner Konstruktion, sondern in seiner Wahrnehmung. Ein sinnliches Lehrstück darüber, was es heißt, auf fremde Menschen zuzugehen, sich zu interessieren, zuzuhören.”

Patrick Holzapfel, perlentaucher.de